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Ellen Semen Menu

Herr Biedermann und Frau Grün

Autor: Kathrin-Sophie Batz am - Ausstellungstext

“Vor rund 200 Jahren war es kein lebensbedrohlicher Virus, sondern ein restauratives politisches System inklusive alles überwachender Geheimpolizei, das die Menschen in die Privatheit flüchten ließ.”
(Elke Doppler, Wien Museum Magazin, Zwischen Chaos und Mutterglück, März 2020)

In ihrer Ausstellung "Herr Biedermann und Frau Grün” in der BURN-IN Galerie und Denkfabrik im Traditionskaufhaus Gerngross auf der Wiener Mariahilferstraße stehen sich zwei Serien gegenüber, die sich auf den ersten Blick thematisch und in ihrer Ausführung stark voneinander unterscheiden. Zum einen zeigt die 1971 in Hamburg geborene, seit über 20 Jahren in Wien lebende Künstlerin Ellen Semen ihre 2005 begonnene Serie “Florale Militanz”, in welcher sie idyllisch anmutende Szenerien mit gesellschaftspolitischen Kommentaren in Form von realpolitisch inspirierten und populären figuralen Zusammensetzungen versieht. Das narrativ kommentierende Element in dieser Serie ist oft versteckt und verleitet die Betrachter*innen dazu sich intensiv mit den Werken auseinandersetzen zu wollen.
Die Arbeit “Wahrscheinlichkeit 1:3” setzt sich mit dem Desaster der US-amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki ab, deren unfassbare Schrecklichkeit sich dieses Jahr zum 75. Mal gejährt hat.
Ein leuchtend gelbes Meer an Sonnenblumen steht im Vordergrund. Ungefähr 200 sind sie an der Zahl und stehen sinnbildlich für die mehr als 200.000 Opfer dieses furchtbaren historischen Moments. Im linken oberen Eck sieht man den Pilz einer Atombombe in den bedrohlich dunklen Himmel steigen. Die Sonnenblumen im unteren Teil des Bildes lassen ihre verwelkten Köpfe hängen. Im rechten oberen Eck sieht man eine in Gelb gekleidete Gestalt. Die Proportionen dieser Gestalt im Vergleich zum Rest der Szenerie, das Fehlen der Doppelreihigkeit der Sonnenblumen mögen an naive Malerei erinnern, allerdings dient dieses Ungleichgewicht der Verhältnismäßigkeit als Entfremdung und somit als Mittel zur Verarbeitung. In dem Werk “Uups.., man-eating” (2005), in dem sie von der Bildsprache und Ästhetik des Quentin Tarantino Filmklassikers “Kill Bill” inspiriert wurde, ist Grün die dominante Farbe. Das 5 Meter lange Diptych sticht nicht durch den Einsatz einer im Kunstkanon außergewöhnlichen Farbe hervor, sondern auch durch seine imposante Größe und die dynamische Struktur der Narration.
Sie verwendet eine Manga Figur als verfremdendes Element, als Form der sinnbildlichen Transportation einer “Message”. Auch Tarantino lässt Uma Thurman in seinem Bild fast übermenschliche Kräfte entwickeln und überzieht Gewaltszenen ins Comichafte.

Die zweite Serie “Biedermeier Reloaded”, die 2016 begonnen wurde, setzt sich mit österreichischen Künstlern der Biedermeierzeit, wie Waldmüller, Dannhauser, Fendi und Kupelwieser auseinander. Die Inspirationsquelle sind Bildbände über die Biedermeier Zeit, die sie auf dem Flohmarkt gefunden hat. Ellen Semen hat diese im Collagenstil in eine moderne Zeit übersetzt. Diese Ausführungen sind detailreich und präzise. Die daraus entstandene Malerei hingegen ist freier gemalt, impressionistischer.

Der Titel “Herr Biedermeier und Frau Grün” kombiniert mit Humor und Augenzwinkern die Hauptcharakteristika der beiden Serien und stellt die populäre Erinnerungskultur an diese Zeit in Frage, beziehungsweise bringt sie durch Einsatz von Collagetechniken und Videoanimationen in einen neuen zeitgeschichtlich relevanten Kontext. Eine gewisse Form von Gegenwartspessimismus zeichnet sich in beiden Serien ab, eine Kritik am Hier und Jetzt - wie in der gegenwärtigen Situationen auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne mit akuten Themen wie beispielsweise der Corona Pandemie umgegangen wird.

Es stellt sich Frage, ob die Zeit eines neuen Biedermeier gekommen ist - der Rückzug ins Private ist durch den weltweit verbreiteten Virus durch von Regierungen vorgeschriebenen Lockdowns forciert worden. Von der Romantisierung eines familiären Idylls ist die gegenwärtige Situation jedoch weit entfernt.

Der Schrecken hält auch Einzug ins Kinderzimmer wie Ellen Semen in ihrem Werk mit dem Titel “Im Kinderzimmer” (2020) zeigt. Angelehnt an das Werk des Biedermeier Künstlers Josef Dannhauser (1805-1845) “Das Kind und seine Welt” aus dem Jahr 1842, in welchem der Künstler seinen dreijährigen Sohn in eine perfekt aber unrealistisch anmutende Spielsituation inszeniert, nimmt Semen den vordergründigen Gegenwartsoptimismus und verkehrt ihn in eine Dystopie, in welcher das Kind sich mit drei der zehn biblischen Plagen, die das alte Ägypten heimgesucht hatten, auseinandersetzen muss.

Das blutrot gefärbte Wasser, die Dürre und die Kröten stehen sinnbildlich für die Ängste, die in Zeiten von geopolitischer Unruhe und einer potentiell lebensbedrohlichen Pandemie diesem Kleinkind gewiss sind. Der Teufel (die Figur ist einem historischen Buch entlehnt) liegt im Detail, das private Chaos des Kinderzimmers spiegelt das Trauma wieder mit welchem sich die heutige Gesellschaft konfrontiert sieht.
Im Hintergrund sieht man eine betende historische Frauenfigur, die an die Margaret Atwoods Dystopie “The Handmaid's Tale” erinnert, in welcher Frauen zu Geburtsmaschinen degradiert werden. Die würfelförmigen Bausteine, die sich links unten im Bild befinden, erinnern an das Open World Videospiel Minecraft. Die virtuelle Welt wird zur Realität. In Zeiten von Corona finden viele ihren Rückzug in jene konstruierten Lebenswelten, um den Herausforderungen des Alltags zu entgehen und um eine Alternativrealität, in welcher das Individuum noch Entscheidungsmacht über seine Lebensgestaltung hat, zu zelebrieren.

Der Rückzug in die eigene idealisierte Realität dient als Antwort auf eine repressiv anmutende soziale Kontrolle (Stichwort: Maskenpflicht ja/nein, soziale “Kriminalisierung” von Infizierten). Ellen Semen hat diesen Perspektivenwechsel “reframed”, nicht nur metaphorisch sondern auch mit dem Einsatz verschiedener Techniken - Malerei, Collage, Zeichnung, Video. Die sprichwörtliche Büchse der Pandora, die nur durch einen Übersetzungsfehler zur Büchse wurde und eigentlich ein Ölkrug war, überschwemmt das Kinderzimmer mit einer Flut an schrecklichen Szenarien, die gerade eben und in naher Zukunft zur Bedrohung werden.

Das Werk “Ausflug aufs Meer” erinnert auf den ersten Blick an das Gemälde "Das Floß der Medusa" des französischen Romantik Malers Théodore Géricault. Er zeigt in seinem Werk ein inneres, psychologisches Drama, wie auch Ellen Semen. Angelehnt ist es jedoch an das Werk des Biedermeier Künstlers Kupelwieser.

Die Figuren der Gesellschaft auf dem Gemalde “Ausflug aufs Meer” sind von einem Aquarell von Leopold Kupelwieser (1796-1862) aus einem anderen Zusammenhang entliehen. Paul Kupelwieser (1943-1919) war der zweite Sohn des bekannten Malers Kupelwiesers und kaufte die kroatische Inselgruppe Brioni (ein Archipel aus 14 Inseln) einem Venezianer ab um sie in eine Feriendestination für die feine Wiener Gesellschaft umzuwandeln. In der von Ellen Semen konstruierten Szene ist sich die dekadente Gesellschaft ihrer prekären Lage nicht bewusst und treibt im bleischwer wirkenden Meer sorglos umher. Ein Herr schaut ins Wasser, wo er seinen Zylinder vermutet, der ihm zuvor vom Kopf gefallen ist, statt sich um die offensichtliche Bedrohung des Kenterns zu kümmern. Das kleine Fischerboot ist treibt seinem Untergang entgegen, der idyllische Sonnenuntergang scheint jedoch eher die Aufmerksamkeit der Besatzung in Anspruch zu nehmen. Diese prekäre Situation und das Unverständnis der sich in dieser befindenden Personen erinnert an die Akteure der zeitgenössischen Weltbühne.

In “Traunstein Wrack” (2017) hinterfragt man als Betrachter*in die Realitätsnähe der Komposition nicht. Bei näherer Betrachtung jedoch fällt einem auf, dass ein Segelschiff, dieser Art nichts auf einem See zu suchen hat. Die Schwimmjacken, die Semen im linken Bildeck platziert hat sind eine Referenz auf die europäische Flüchtlingsthematik. Die Vielschichtigkeit von Ellen Semens künstlerischer Arbeit entpuppt sich in einem Entdeckungsprozess. Der Entstehungsprozess eines neuen Lebewesens, eines Schmetterlings mithilfe der Lebenssubstanz der Raupe, liegt als Assoziation nahe.

Die soziopolitische Bedeutung von Ellen Semens Werk ist nicht von der Hand zu weisen und führt uns auf subtile Art und Weise vor Augen was in der Welt schief läuft. Europa, oder besser die Europäische Staatengemeinschaft geht zugrunde. Das europäische Mächtekonzert hat ausgespielt. Durch Corona ist die Klimakrise ins Abseits katapultiert worden, obwohl die Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht schwächer geworden ist. Die Aufmerksamkeit hat sich verschoben, die Globalisierung ist nicht mehr der Heilige Gral, die von Harald Schumann und Hans-Peter Martin 1995 proklamierte Globalisierungsfalle (im gleichnamigen Buch) hat sich größtenteils bewahrheitet.
Doch was nun? Die Kunst ist immer schon an Krisen gewachsen und wird sich auch in Zeiten wie diesen ihre Freiheit nicht nehmen lassen. Die gesellschaftspolitischen Kommentare in Ellen Semens Kunst geben eine gewisse Hoffnung, dass die Stimmen laut bleiben werden und das letzte Wort noch nicht gesagt ist.

Die Bildsprache der beiden Serien “Florale Militanz” und “Biedermeier Reloaded” unterscheidet sich durch den Einsatz verschiedener Techniken. Die erste Serie findet vorwiegend in der Natur, im sogenannten Grün statt, daher auch das Wortspiel “Frau Grün” im Titel, da die Inhaberin und Leiterin der Galerie Sonja Dolzer spezialisiert auf Green Art ist. Die Biedermeier Serie zeigt die Innen- wie auch die Außenwelt ihrer Akteure. Nicht nur den Innenraum der Lebensrealität sondern auch das Innenleben der einzelnen Personen. Das verbindende Element ist die gesellschaftskritische Kommentarebene, welche die Künstlerin gekonnt subtil in ihre Werke einfließen lässt. Sie scheut sich nicht davor Stellung zu beziehen und ihren Bedeutungshorizont auf eine reflektiert-kritische Ebene zu heben. Darüber hinaus ist Ellen Semen eine wunderbare Geschichtenerzählerin. Sie kombiniert historische Momente, versieht sie mit klugen Kommentaren, erlaubt jedoch trotzdem den Betrachter*innen eine eigene Interpretationslogik. In ihre Erzählwelt versunken, vergisst man Zeit und Raum - ein willkommenes Aus vom Alltag und nicht zu verpassen.

Die Ausstellung läuft von 2.10. bis 29.10.2020 in der BURN IN Boutique Galerie im Gerngross.